Jejudo im Juli 2020. Blick auf Seogwipo und Hallasan im Hintergrund

Aguirre Chardonnay Dos Copas 2018

Wahnsinn und Revolution

Wohlwollendes zum Bodegas y Vinedos de Aguirre, Chardonnay, „Dos Copas“, D.O. Valle Central, 2018

von Michael Benger / SensationWein – Aguirre Chardonnay Dos Copas 2018

Seogwipo, Mittwoch, 8. Juli 2020

Lesezeit: ca 5 Minuten

Jejudo im Juli 2020. Blick auf Seogwipo und Hallasan im Hintergrund. Hier verkostete ich den Aguirre Chardonnay Dos Copas 2018.
태평로 431번길Taepyeong-ro 431 beon-gil, achtes Stockwerk – Blick von meiner Quarantäneunterkunft

Seogwipo, 6. Juli 2020. Erster Tag meiner zweiwöchigen Corona-Quarantäne in einem kleinen Apartment hoch über der südkoreanischen Hafenstadt auf der Vulkaninsel Jejudo. Immerhin mit Balkon, Blick auf den fast 2.000 Meter hohen Hallasan, einem persönlichen Telefonbetreuer (oder Überwacher) und einer angebrochenen Flasche Weißwein im Kühlschrank, dem Aguirre Chardonnay Dos Copas 2018.

Seit geraumer Zeit gelten Chiles Weine auf der internationalen Bühne im Allgemeinen als „gut gemacht und preisgünstig“1, als „zuverlässige Schnäppchen“2. Und chilenischer Chardonnay im Besonderen sei, in Anlehnung an Ignacio Recabarren, Önologe beim Branchenriesen Viña Concha y Toro, zwar kein Spitzenwein, aber mittlerweile dank guter Kellertechnik immerhin vorzeigbar.3 Einen bemerkenswerten Vertreter der Kategorie ‚akzeptabler Weine‘ stellt der 2018er Chardonnay „Dos Copas“, D.O. Valle Central von der Bodegas y Vinedos de Aguirre dar. Aufmerksamkeit verlangt dieser Wein nicht nur wegen seines sensationell niedrigen Preises von 4.900 KRW, also rund 3,50 €. Interessanter noch ist der Zeitpunkt der Markteinführung durch die Unternehmensgruppe Shinsegae. Gute Gründe also für eine Degustation.

Degustation des Aguirre Chardonnay Dos Copas 2018

Im Glas präsentiert sich der Chardonnay strahlend, in einem blassen Strohgelb bei mittlerer Viskosität. In der Nase scheint der Wein nicht ganz reintönig zu sein, dafür aber ausgeprägt intensiv. Die Primäraromen von tropischen Früchten sowie Steinobst werden begleitet von einem irgendwie muffigen, modrigen Geruch – nasse Wolle oder feuchtes Laub kommen mir in den Sinn. Geschmacklich ist der Wein trocken, mit moderater Säure aber spürbarem Alkohol. Sein Körper hat ein mittleres Gewicht. Die Aromen von Zuckermelone, Ananas und Pfirsich wiederholen sich zunächst mit mittlerer Intensität, übertüncht dann aber von vegetabilen Noten – mit dabei auch überreifer gelber Apfel. Bald weicht das Süßliche einer nicht unbedingt angenehmen Bitterkeit. Der Abgang schließlich ist, ich bin geneigt zu sagen dankenswerterweise, kurz.

Flasche und Weinglas mit dem Aguirre Chardonnay Dos Copas 2018, hoch über der südkoreanischen Hafenstadt Seogwipo.

Fazit. Der 2018er Chardonnay „Dos Copas“ – das ist Neue Welt, hot climate, anaerobe Vinifizierung: Seine anfänglichen Aromen und sein Geschmack scheinen wie aus dem Lehrbuch entsprungen. Das ist aber auch „Valle Central“, riesige 60.000 Hektar meist industriell bewirtschaftete Rebfläche: Konsistenz, Balance und Länge des „Dos Copas“ unterstreichen den Ruf der generischen Appellation als Lieferant von einfachen Alltagsweinen und Massenproduktionen. Unterm Strich bleibt so ein sensationeller Preis für einen Wein mit überschaubaren Qualitäten.

Die 1980er Jahre: „Chardonnay-Wahnsinn“ und „Stainless Steel Revolution“

Chilenische Weine konnten sich seit 2005 durch ein früh abgeschlossenes Freihandelsabkommen in Südkorea etablieren. Auch wenn ihr Zollvorteil inzwischen verschwunden ist, so genießen sie nach wie vor den Ruf eines guten Preis-Leistungs-Verhältnisses im streng preisorientierten Marktsegment. In 2019 war Chile mit 26,2 Prozent Anteil am mengenmäßigen Importaufkommen (wertmäßig jedoch nur 18,8 Prozent) als der führende Weinexporteur nach Korea vertreten.4 Insgesamt muss das südamerikanische Land zwischen Pazifischem Ozean und Anden zu einem der weltweit energetischsten Weinexporteure gezählt werden.5 Zu verdanken hat Chile dabei seinen kometenhaften Aufstieg unter anderem zwei Entwicklungen, die in die 1980er Jahre zu datieren sind: Dem „Chardonnay-Wahnsinn“ und der „Stainless Steel Revolution“.

Damals forderte die im Entstehen begriffene Weinindustrie der Neuen Welt mit der Etikettierung der Rebsorte anstatt der geografischen Herkunft den als protektionistisch empfundenen Ansatz des alten Europas heraus. Dabei wurde der mit seinem überschwänglichen Charme, relativ hohem Alkohol- bei niedrigem Säuregehalt und dem Mangel an kraftvollem Duft schmeichelnd einfach zu genießende Chardonnay schnell zu Everybody‘s Darling.6 Auch die großen chilenischen Weingüter konnten der scheinbar bodenlosen Nachfrage, zunächst aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien, nach preiswertem Chardonnay nicht widerstehen und pflanzten insbesondere im Valle Central extensiv ertragssichere und produktive Klone für die maschinelle Bewirtschaftung an. Da aber Weine dieser Art, „preiswert, unkompliziert und unauffällig“7 eher im Keller als im Weinberg entstehen, bedurfte der Wahnsinn noch der Revolution.

Viña Cánepa markierte 1980 als erste Kellerei, die ihre riesigen alten Raulí-Fässer aus einheimischem Buchenholz durch Edelstahltanks aus den USA und Europa ersetzte, den Beginn einer technologiegetriebenen Ära der Weißweinbereitung. Durch die nun mögliche temperaturkontrollierte, streng reduktive Gärführung gelang es, Qualität und Geschmack der chilenischen Weißweine auf den Standard der internationalen Märkte zu heben.8

Zeit der Schnäppchenjäger

Der hinsichtlich Quantität und Qualität als hervorragend eingestufte chilenische 2018er Jahrgang wurde bereits vor Flaschenabfüllung per Vorernte-Verträge von inländischen Einkäufern, aber auch aus Europa und China stark nachgefragt. Die etwas kühlere Vegetationsperiode im Valle Central kam den weißen Trauben hinsichtlich Säuregehalt und Aromaausprägung besonders zugute, wie Eduardo Jordán, Önologe bei Viña De Martino feststellt.9 Der mäßige Alkoholgehalt konnte durch Aufzuckerung mit Traubenmostkonzentrat auf das gewohnte Niveau gehoben werden. Die ab Jahresmitte aufkommende Schwäche des chilenischen Pesos gegenüber dem Dollar und anderen wichtigen Währungen sorgte zudem für zunehmend wettbewerbsfähigere Preise auf dem Weltmarkt.

Erhebliche Absatzschwierigkeiten allerdings hatten die Weine minderer Qualität, bspw. von Weinstöcken mit übermäßigen Erträgen, die mit argentinischen, oder, später im Jahr, spanischen Produkten kaum konkurrieren konnten. Eine deutliche Preiskorrektur nach unten war, auch mit Blick auf Lagerkapazitäten für die bald anstehende Weinlese 2019 oder eventuell benötigter liquider Finanzmittel, zwingend erforderlich. Es kam die Zeit der Schnäppchenjäger – bis Juni 2019 war der 2018er Jahrgang dann endlich weitgehend abverkauft.10 In unserem Fall sollte es jedoch noch bis zum Oktober dauern. Schließlich erschien der 2018er Chardonnay „Dos Copas“ am 23.04.2020 in den Regalen der koreanischen Kaufhauskette11 – rund zwei Jahre nach seiner Vinifizierung im März respektive April 2018!

Das Dilemma der Kaltgäraromen

Das Problem mit der durch den Einsatz von Edelstahltanks ermöglichten Kaltvergärung, im Falle des Chardonnays von de Aguirre für 20 Tage bei 12 bis 14 Grad Celsius, liegt in der fehlenden Beständigkeit der Gärungsaromen.

Es lässt sich zwar der so sehr im Konsumententrend liegende Weintyp des „international dry“ mit 5 bis 15 g/L Fructose herstellen, wobei der Restzucker einige „Unebenheiten“ im Wein zu verdecken sowie den Körper zu harmonisieren vermag. Das Süßeempfinden trägt auch zu Verstärkung der Fruchtaromen bei, bis hin zu sauren Drops oder eingeschmolzenen Gummibärchen. Die Weine sind anfangs reintöniger und wirken Dank des höheren CO2-Gehaltes frischer.12 Aber die Aromen sind nicht haltbar. Der Alterungsprozess setzt schnell ein.13 Die Weine oxidieren, wirken schlaff und altersfirnig, der Geschmack wird bitter, muffige (fusty) Aromen erscheinen. „Die meisten chilenischen Weißweine sollten bald nach der Abfüllung getrunken werden“, schreibt daher der Wine Spectator.14

Eingangs hatte ich das Erscheinungsdatum als Anlass für einen raschen Genuss angeführt. Mit Blick auf die Weinbereitung des „Dos Copas“ und die Marktbedingungen haben sich nun einige Hintergründe klären lassen.

Reportage zum Aguirre Chardonnay Dos Copas 2018 - Wahnsinn und Revolution

In „Wahnsinn und Revolution. Wohlwollendes zum Bodegas y Vinedos de Aguirre, Chardonnay, „Dos Copas“, D.O. Valle Central, 2018“ geht es, entlang des Beispielweines, um die Weißweinbereitung in Chile, insbesondere die Kaltvergärung, sowie die daraus resultierende Charakteristik des Weines. Thematisiert wird auch die Preisentwicklung auf den internationalen Weinmärkten.

Lesezeit: ca. 5 Minuten

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  1. Tom Hyland (2018): Wines Of Chile: A Whole New World Of Style And Excellence.; in: Forbes Magazine, Sep 10, 2018; aufgerufen am 07.06.2020 ↩︎
  2. Jancis Robinson, Julia Harding (2015): The Oxford Companion to Wine; 4th Edition, Seite 168 ↩︎
  3. siehe: Oz Clarke, Margaret Rand (2001): Grapes & Wines. A comprehensive guide to varieties & flavours.; Seite 243 ↩︎
  4. United States Department of Agriculture (2020): “Wine Market Report, Republic of Korea.”; USDA Report Number: KS2020-0020, April 02, 2020; aufgerufen am 07.06.2020 ↩︎
  5. Jancis Robinson, Julia Harding (2015): a.a.O.; Seite 168 ↩︎
  6. ebd., Seite 159 ↩︎
  7. Kare MacNeil: The Wine Bible. 2nd Edition, Workman Publishing: New York, 2015, Seite 873; im Original: „bargain-priced, uncomplicated, and unremarkable” ↩︎
  8. Manuel R. Agosin, Claudio Bravo-Ortega: The emergence of new successful export activities in Latin America: the case of Chile. Inter-American Development Bank: Washington, 2009, Seite 16f ↩︎
  9. Amanda Barnes: “Chile Vintage Guide”, in South American Wine Guide; aufgerufen am 07.06.2020 ↩︎
  10. vgl. zur Marktsituation diverse Ciatti-Reporte aus 2018 ↩︎
  11. Shinsegaegroupinside, Meldung vom 22.04.2020; aufgerufen am 07.06.2020 ↩︎
  12. Helmut Hans Dittrich, Manfred Großmann: Mikrobiologie des Weines. 4., aktualisierte Auflage, Verlag Eugen Ulmer: Stuttgart, 2010, Seite 86 ↩︎
  13. Bernhard Fiedler: „Von der Traube zum Weißwein, Teil 5“, Bernhard Fiedlers We(in)blog, 17.10.2006; aufgerufen am 07.06.2020 ↩︎
  14. Webseite von Wine Spectator; aufgerufen am 07.06.2020 ↩︎